Jahrestagung 2008
Deutsche und europäische Transformationen von 1989 bis heute
Die diesjährige wissenschaftliche Jahrestagung wird von Professor Heiner Meulemann (Universität zu Köln) organisiert und findet im Rahmen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (06.-10. Oktober 2008) in Jena statt.
Datum/Zeit 08.10.2008, 14:15
Ort/Raum Carl-Zeiss-Str. 3 / Hörsaal 3
Das Ende des Staatsozialismus vor fast zwanzig Jahren wurde in den Sozialwissenschaften als Herausforderung begrüßt, ein einmaliges natürliches Großexperiment, den Übergang der Staaten des früheren „Ostblocks“ von Diktatur zu Demokratie und von Plan- zu Marktwirtschaft, wissenschaftlich zu verfolgen. „Einmalig“ und „groß“ sei das Experiment vor allem deshalb, weil es sich auf mehrere Nationalgesellschaften gleichzeitig bezog und weil als „Kontrollgruppe“ sehr viele und sehr ähnliche Staaten verfügbar sind: in Deutschland die alte Bundesrepublik, in Europa die Staaten mit längerer demokratischer und marktwirtschaftlicher Tradition. In Deutschland wurde die Verfassung der alten Bundesrepublik auf die neuen Bundesländer übertragen, aber nach wie vor unterscheiden sich die Gesellschaften beider Landesteile: In Ostdeutschland hat sich ein eigenes Parteiensystem herausgebildet, die kirchliche und kirchenfreie Religiosität ist nicht wieder aufgelebt, die Zivilgesellschaft von Vereinen und freiwilligen Aktivitäten liegt nach wie vor danieder, das Leistungsprinzip steht immer noch Schatten sozialstaatlicher Forderungen. Auch die übrigen ehemals staatssozialistischen Staaten haben Parlamentarismus und Marktwirtschaft übernommen. Aber auch hier haben sich die früher bevormundeten Zivilgesellschaften noch nicht wieder erholt. Kurzum: Neue Sozialordnungen lassen sich schnell einführen, aber Menschen brauchen Zeit, um sich umzustellen. Das Großexperiment dauert an.
Es dauert so lange an, dass es droht, in der Gemeinschaft der wissenschaftlichen Beobachter vergessen zu werden. Das ist Anlass, sein Andauern auf einer sozialwissenschaftlichen Tagung in Erinnerung zu rufen und die Generalfrage zu stellen, wie es beurteilt werden kann. Genauer sollen drei Fragen behandelt werden. Erstens: Worin lag im Vergleich zur „Kontrollgruppe“ das experimentelle „treatment“, im Fortwirken der alten oder in der Einführung der neuen Verfassungen? Gab es reaktive Effekte auf die Einführung der neuen Verfassungen, die man zu Unrecht dem Fortwirken der alten zuschreibt? Salopp formuliert: War das Großexperiment ein „Hawthorne-Experiment“? Zweitens: Waren seine Effekte in unterschiedlichen Lebensbereichen ähnlich und ähnlich schnell oder nicht? Wie hat es z.B. auf die politische Kultur und die Zivilgesellschaft und wie auf das Leben und Denken im Alltag gewirkt? Schließlich drittens: Wie lange wird es andauern? Wann kann man von einem Ende, einem Erfolg oder Misserfolg, sprechen und inwiefern?